Religiöse Atmosphären

Hermann Schmitz hat Gefühle als leibliche Resonanzen ”ortlos ergossener Atmosphären” beschrieben, die im Menschen ein ”affektives Betroffensein” erzeugen. Gefühle spiegeln Atmosphären. Das erklärt, warum die Musik wie kaum ein anderer Bereich des menschlichen Lebens zu intensiven Erfahrungen führt. Sie ist das resonanzgebende Phänomen schlechthin. Die Erfahrungen des Einschwingens und Verschmelzens, die beim Hören von Musik geschehen, lassen sich zugleich als Urphänomene der Religion verstehen. Musikalisch erzeugte und gespürte Atmosphären gehören darum schon immer zur Religion. Da sie in Zeiten individualisierter Suche als ”inspirierende Stimmen für die eigene individuelle Gestaltung ... (und) als Impulse für die eigene religiöse Orientierung” (G. Bitter, NHRPG 79) geschätzt werden, sind sie praktisch-theologisch höchst bedeutsam.

1. Bestandsaufnahme
a) kulturwissenschaftlich

Atmosphären sind schwer fassbar, ”nebelhaft” (G. Böhme), nicht leicht kommunizierbar und für die Alltagsbewältigung oder gar die heute dominierende Ökonomie scheinbar nutzlose Phänomene. Kluge Pädagogen wussten aber schon immer, dass Atmosphären entscheidend unser Lernen und Wahrnehmen  - d.h. unsere Auffassung der Welt – mitbestimmen.

Heute prägen bewusst und künstlich hergestellte Atmosphären in hohem Maße das zivilisierte Leben. So hat in der Werbung die atmosphärisch arbeitende Lifestyle- und Image-Werbung längst die informierende Produktwerbung abgelöst. Entsprechende Atmosphären werden vor allem durch Hintergrundmusik erzeugt. Vergleichbares gilt für gastronomische Betriebe (Cafés, Kneipen, Restaurants) oder den Kinofilm, dessen emotionale Wirkung durch Begleitmusik nachhaltig gesteigert wird, usw. G. Böhme hat darauf hingewiesen, dass in den Bereichen Medien, Design, Körperkultur, Kunst und Musik ganze Berufszweige an der gezielten Herstellung von Atmosphären arbeiten, und dass solche Herstellung auch eine Machtfrage über menschliche Gemüter darstellt.
Das gesamte menschliche Leben ist atmosphärisch geprägt. Ein Großraumbüro, eine menschliche Begegnung, ein Museum, ein Popsong, ein schweigendes Paar, jede kulturelle Inszenierung (Feste, Theater usw.) führt eine eigene Atmosphäre mit sich – ebenso wie ein aufziehendes Gewitter, ein Park, ein Stadtviertel, selbst jedes gesprochene Wort.

Nachhaltig und intensiv wirkende Atmosphären entstehen vor allem in bestimmten Momenten in der Natur, in menschlichen Beziehungssituationen und in den verschiedenen Bereichen der Kultur; hier wiederum am nachhaltigsten durch Räume und durch Musik – beide sind besonders resonanz-starke Phänomene. Musik involviert und lässt die Grenzen zwischen Subjekt und Außenwelt fließend werden. ”Das Ohr kennt kein Gegenüber” (P. Sloterdijk, Weltfremdheit 296). Vor allem die Musik macht deutlich, dass ihre Wirkung – so wie die aller Kunst – weit mehr durch die von ihr erzeugten Atmosphären entsteht als durch rationales Erkennen.
Atmosphären sind ein Grundphänomen, laut Böhme sogar ”das zentrale Thema” der Ästhetik (Böhme 16). Ihre Zuordnung zur Ästhetik, die quer zur Ethik liegt, zeigt sich bereits daran, dass sie nicht als ”gut” oder ”böse” gelten können, sondern zwischen freundlich / angenehm / wohlig auf der einen und feindlich / bedrohlich / ängstigend auf der anderen Skalenseite schwanken. Ein Zwischenbereich, der vor allem für die moderne Kulturindustrie wichtig geworden ist, ließe sich als stimulierend oder spannend beschreiben – die sprichwörtliche ”knisternde” Atmosphäre. Die neuere philosophische Ästhetik beschreibt die Atmosphäre als stimmungsgebende Aura oder wahrgenommene Stimmungslage und versucht den phänomenologischen Zugang vor allem über Raummetaphern. Sie geht davon aus, dass Atmosphären in allen menschlichen Orientierungsvorgängen primär sind und noch vor jeder bewussten Wahrnehmung gespürt werden. Sie bestimmen also die Wahrnehmung nachhaltig mit und entscheiden mit über die subjektiven Perspektiven und Ansichten der Welt. Atmosphären sind auch ein gewichtiger Teil der Erinnerungen, die nach neueren neurobiologischen Einsichten ebenfalls an der Wahrnehmung beteiligt sind und diese intern vorstrukturieren.

Atmosphären sind hochgradig komplexe Phänomene, die sich allein einer phänomenologischen Wahrnehmung und Beschreibung erschließen. Dem linearen, kausalen Denken, das die abendländische Denktradition bestimmt hat, sind sie nicht oder nur höchst eingeschränkt zugänglich. Nachgerade verwirrend für die rationale Vernunftlogik ist die auch durch die moderne Neurobiologie gestützte Einsicht, dass Atmosphären das Erste jeder Wahrnehmung sind. Da alle Erkenntnis auf sinnlicher und coenästhetischer (körpereigener) Wahrnehmung basiert, Wahrnehmung wiederum auf Betroffenheitsempfinden, dieses schließlich auf dem Spüren von Atmosphären, lässt sich folgern, dass Atmosphären am Anfang von Erkenntnis überhaupt stehen. Verstehbar und beschreibbar sind sie am ehesten in Analogie zur Wahrnehmung des künstlerischen Bildes oder eines Gesichts, deren nicht kausal erfassbare Komplexität nicht Präzision oder Genauigkeit spiegelt, sondern Prägnanz, d.h. das schnelle Erfassen des Vielschichtigen und kaum Artikulierbaren. Insofern gehören Atmosphären zur ikonischne Logik; ein ”iconic turn” sollte nach einem Vorschlag von G. Boehm die breite Wende der Philosophie zur Sprache (linguistic turn) ergänzen.

Gespürte Atmosphären führen zur Erfahrung von Präsenz, d.h. von wacher Aufmerksamkeit, und sind entsprechend unverrechenbar wie alle vital bedeutsamen Phänomene: Kunst, Liebe, Selbstbildung, Religion usw.

In der Musik finden sich alle atmosphärische Schattierungen zwischen düster und hell, aufwühlend, schmerzhaft und heiter. Der Musik insgesamt ist allerdings ein aufhellender Zug eigen, wie etwa das beruhigende und lösende Harfenspiel des David vor dem schwermütigen Saul früh belegt (1 Sam 16,14-23). Musik kann heilend wirken (Musiktherapie). Gehörte Musik bewegt; d.h. auch, sie drängt in den antwortenden Ausdruck: ein Lied verleitet zum Einstimmen, rhythmische Musik zum Tanz.

b) religionstheoretisch

Der Zugang zur Religion und die Möglichkeiten religiöser Erfahrung, Darstellung und Kommunikation sind in hohem Maße atmosphärisch bedingt. Ein beliebiger Kirchenraumes etwa erschließt sich in weit intensiverem Maße über die Wahrnehmung seiner Atmosphäre als über historische und kunstgeschichtliche Daten; jeder vollzogene Kultus (vor allem der Gottesdienst, aber auch Kasualie und Andacht) führt eine bestimmte Atmosphäre mit sich; das christliche Weihnachtsfest ist für die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht Feier eines historischen Ereignisses oder eines dogmatischen Gehalts, sondern individuell erlebte und erinnerte Atmosphäre, zu der jeweils eine Fülle von subjektiven Dimensionen gehören. Genau diese subjektiv-unverrechenbaren Perspektiven auf das Leben und die Welt gehören wiederum zu den Grundthemen der Religion. Denn Religion macht zum Thema, nicht wie die Welt und das Leben geworden oder zusammengesetzt sind, sondern wie sie gesehen und aufgefasst werden können.

Die religiöse Musik spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Sie spiegelt von Anfang an einen Reflex auf die alte Erfahrung, dass die Welt zu ”klingen” vermag. Neben der himmlischen Musik der Engel hörten religiöse Ohren schon immer eine Sphärenmusik (modern gewendet: ”Die Welt ist Klang”, J. Behrens unter Verwendung einer hinduistischen Formel). Der Klang ist neben Raum, Sprache und spiritueller Praxis der gewichtigste religiöse atmosphärische Phänomen-, und auch Ausdrucksbereich. ”Musik und Dichtung sind die ersten Stabilisatoren im Prozeß des religiösen Bestimmt-Werdens, weshalb die Religionstheorie an ihnen das größte Interesse nehmen sollte” (H. Timm, Zwischenfälle 69).

Im Christentum hat der religiöse Klang schon immer starke atmosphärische Wirkungen hervorgebracht. In der altkirchlichen Abwehr heidnischer Instrumentalmusik war die christliche Musik lange Zeit hindurch auf die gottesdienstliche Feier und auf Fest- und Feiertage beschränkt. Die christliche Kirchenmusik ist darum bis heute von vorwiegend festlicher und tendenziell ernster Atmosphäre. Die kirchenmusikalische Tradition hat jedoch eine breite Palette von Formen mit je eigenen Atmosphären hervorgebracht – von der beruhigenden und zentrierenden äußerste Schlichtheit der Gregorianik und der liturgischen Gesänge, über den meist ”inbrünstig”-schleppenden Gemeindegesang, festlich-erhabene Orgelmusik, die kraftvoll-geraden und feierlichen Werke J.S. Bachs, die opulenten späteren Oratorien, bis hin zur dissonanten Kühle moderner Kirchenmusik-Komponisten (Distler u.a.), fröhlich-naivem Sakro-Pop und der meditativ-schlichten Musik aus Taizé.

2. Problemanzeige

Die Bedeutung der kirchenmusikalisch erzeugter und gespürter Atmosphären ist theoretisch und praktisch unterschätzt. In der akademischen Theologie hat die Aussage J. B. Bachs, dass alle Musik ”Gott ehren und das Gemüt ergötzen” solle, kaum Widerhall gefunden. Auch Luther, der die Musik schätzte und theologisch als Dienerin der Evangeliums-Verkündigung eingeschätzte – theoretisch eigentlich gleichbedeutend mit der mündlichen und der sakramentalen Verkündigung – hat sie theologisch wenig reflektiert. Ein Grund dafür kann in der schwierigen theologischen Beschreibung von Atmosphären vermutet werden, die ihres Bild-Charakters wegen nicht kausal und rational, sondern nur annähernd-ungenau und poetisch-umschreibend gelingt. Die stark inhaltsorientierte akademische Hochtheologie war bisher vor allem an ”objektiven” Heilstatsachen interessiert, wenig an ästhetischen Phänomenen, noch weniger am Subjekt und seinen unverrechenbar verschiedenen Wahrnehmungsweisen. Kirchenmusikalische Atmosphären hatten darum kaum Platz in der Systematischen Theologie und wurden in der Praktischen Theologie erst spät eigens reflektiert.

Der Zugang zur christlichen Religion (d.h. ihre Wahrnehmung und Aneignung) ist in weit höherem Maße atmosphärisch, d.h. sinnlich konturiert, als das die rational-diskursiv verfahrende akademische Theologie je wahrhaben wollte. Darum blieben die Wirkungsprinzipien christlicher Didaktik lange unbeachtet und sind bis heute kaum bekannt. Unreflektiert blieb auch, dass Gemeinde- und Sakralräume, aber auch Gottesdienste eine schlechte Atmosphäre haben, oder eine schlecht inszenierte Liturgie ebenso peinlich wirken können wie die laienhafte Aufführung eines Dramas. Für Kirchenmusik gilt zwar Entsprechendes, sie wurde faktisch aber durch die musikalischen Professionellen auf hohem Niveau gehalten. Unreflektiert blieb dagegen ihre Wahrnehmung. Das Stichwort ”Inszenierungskompetenz”, liturgische Kurse durch Schauspieler u.a. zeigen in jüngster Zeit ein wachsendes religiös-ästhetisches Bewusstsein, das zwar die Atmosphären des Religiösen entdeckt hat, allerdings noch wenig im Bewusstsein der Gläubigen (eher der Religionsfreunde) verankert ist.

Praktische Probleme der Kirchenmusik zeigen sich in einer mangelnden Beteiligung der Laien, der weitgehend auf den Liedgesang beschränkt ist und wenig geübt wird, darum oft eine melancholische Atmosphäre erzeugt. Weiterhin ist die zeitgemäße Weiterentwicklung der Orgelmusik, die neuere musikalische Elemente oder Improvisationen aufnimmt, kaum präsent. Vor allem aber werden klassische kirchenmusikalische Ausdrucksformen unbekannter, da sie hochkulturelles Verstehen voraussetzen. Diese sind nur noch für wenige zugänglich. Die Verbindung mit populärkulturellen Elementen hat sich als schwierig erwiesen; Sakro-Pop, Schlager und Gospel haben sich nicht etablieren können. Widersprechen sie dem Ernst protestantischer Frömmigkeit? Bisher gibt es auch nur wenig eingeführte und bekannte Kirchenmusik neueren Stils. Nur im amerikanischen Raum ist bisher in der Aufnahme von Blues, Jazz und Improvisation eine kirchenmusikalisch neu etablierte Tradition entstanden, die modernen Geist spiegelt. Gospels und Spirituals erzeugen eine enthusiastisch-spontane Atmosphäre eigener Art, die religiöse Erfahrungen zulässt. Eine Ausnahme bildet hierzulande nur das Musikgut aus Taizé, offensichtlich auf Grund seines eingängig-melodiösen und meditativ-getragenen Stils.

3. Aussichten

Die Aufmerksamkeit auf die Atmosphären der Musik hat Folgen für die christliche Religion. Sie vermag wie wenig anderes sonst einen Zugang zum Christentum und seiner Erfahrungsdimension zu bahnen. ”In ihrem Schwebezustand zwischen Rationalität und Affektivität setzt Musik ihre religiös propädeutischen und mystagogischen Kräfte frei” (G. Bitter, NHRPG 82).

Jede religiöse Praxis und Ausdrucksform ist atmosphärisch grundiert und erzeugt selbst Atmosphären. Daraus lassen sich für die ”Kirchenleitung” im Sinne F. Schleiermachers wichtige praktisch-theologische Konsequenzen ziehen. Da die Kirchenleitung durch Theologen, Laien und Künstler gemeinsam gestaltet wird, muss der Anteil nicht nur der Laien, sondern insbesondere auch der Künstler erhöht werden. Die künstlerisch-ästhetischen Kompetenzen der Liturgen müssen gestärkt und ausgebaut werden. Erforderlich ist ferner eine (ebenso qualitätsbewusste wie lustvolle) Anleitung zur musikalischen Beteiligung im Gottesdienst.

Die Wahrnehmung und die gekonnte Erzeugung von Atmosphären sollten in der christlichen Religion zum handwerklichen Inventar gehören. Zu beachten ist neben den entsprechenden künstlerischen Kompetenzen vor allem zweierlei: Religiöse Atmosphären müssen unverwechselbar sein – es geht um Religion, und die ist nicht anderweitig ersetzbar. Und sie müssen unter heutigen Bedingungen einer erlebnis- und nutzenorientierten Gesellschaft anziehend sein, d.h. plausibel für die Lebensführung von modernen Menschen.

Praktisch-theologisches Handbuch für Kirchenmusik