Religion begreifen

Kleine Phänomenologie sinnlicher religiöser Erfahrung

Szene 1: Erste Eindrücke

Das Kind starrt etwas ängstlich den großen roten Mann an. Er muss uralt sein, denn er hat einen schlohweißen Bart und spricht sehr gesetzt. Die Angst ist – trotz aller gegenteiliger Versicherungen – berechtigt: denn dieser rote Mann weiß genau, was die Kinder das Jahr über tun und belohnt sie, wenn es richtig war; was natürlich immer auch heißen kann: er bestraft sie, wenn es böse war. Wer aber kann das so genau wissen, was richtig oder falsch ist? Mit Herzklopfen überreicht das Kind dem roten Mann eine selbst gemachte Zeichnung, auf der ein Baum, verpackte Geschenke und Lichter zu sehen sind. Es wird dafür von dem Mann gelobt, rennt aber doch schnell an seinen Platz zurück. Zwischen den anderen Kindern fühlt es sich sicherer. Nach wie vor starrt es den Mann mit großen Augen an.

Es mag sein, dass das Kind diese Begegnung mit einem Vertreter der Religion später vergisst, zumindest nicht mehr bewusst erinnern kann. Dennoch wird man davon ausgehen müssen, dass derartige ersten Eindrücke von großem Gewicht sind und spätere Erfahrungen mit der Religion sozusagen atmosphärisch vorzeichnen. Nach wie vor ist wenig bekannt, was religiöses Lernen eigentlich bedeutet, und wie es sich vollzieht; vermuten wird man aber können, dass es ein später unentwirrbares Amalgam aus frühen Eindrücken, entsprechenden Stimmungen, subjektiv gefärbten Erinnerungen, Phantasien und Erklärungsversuchen ist. Dabei dürften Beziehungserfahrungen  von besonderem Gewicht zu sein. Denn das menschliche Gehirn hat eine ausgeprägte Fähigkeit, Personen wahrzunehmen und deren Eindrücke zu speichern. Die erstaunliche menschliche Merkfähigkeit für Gesichter, die das abstrakte Begreifen um ein Vielfaches übersteigt, ist bekannt.

Derartige frühe Eindrücke, zu denen neben Personen natürlich auch Geschichten und andere Phänomene aus dem Bereich der Religion gehören, scheinen als Prägungen zu wirken, die mit Hilfe der Phantasie gleichzeitig angeeignet und subjektiv umgestaltet werden. Religiöses Begreifen ist mimetisch strukturiert: es findet eine Angleichung an innere Verarbeitungs- und Merkschemen statt, die im geglückten Fall selbst zur neu gestalteten Szene wird: vielleicht geht das Kind vom Kindergarten nach Hause, malt den alten Mann in verschiedenen Variationen und fängt dann an, die Szene nachzuspielen, allein oder mit anderen Kindern zusammen. Was in solchen mimetischen Vorgängen geschieht, ist eine innere Formung, die mit Recht bereits im Kindesalter als religiöse Bildung bezeichnet werden kann.

Szene 2: Räume

Bewegung im Deckengewölbe; mit jedem Schritt verändert sich der ganze Raum, er scheint zu fließen. Die Streben im Gewölbe sind so fern, dass der eigene Körper zur Winzigkeit wird in den kaum auszulotenden Dimensionen des Doms. Wie klein ich sein kann. Und – eigenartig – wie beruhigt ich mich hier fühle, wie abgezogen von den so oft kreisenden eigenen Gedanken. Immer neue Fluchten und Durchblicke öffnen sich. Die alten Glasfenster filtern das Licht und lassen den Raum in einem Dämmer versinken, der bei aller Aufmerksamkeit des Blicks schwer zu durchdringen ist. Die wenigen anderen Menschen im Raum bewegen sich schweigend.

Religion lebt in hohem Maße von ihren Orten und Räumen und deren Atmosphären. Kirchengebäude sind in unserer Erfahrung nahezu synonym mit der christlichen Religion. Wer diese seltsamen Bauten unvoreingenommen betrachtet, stellt schnell fest, dass sie durch und durch Kunst sind: das Bauwerk, die Fenster, die Bilder und Statuen, schließlich die Musik der Orgel und die Liturgie mit ihren Prachtgewändern und Ritualen. Religion ist Kunst: denn jeder Ausdruck religiösen Gefühls geht unmittelbar und unverzichtbar in Kunst über, er kann sich gar nicht anders artikulieren – es sei denn als Reflexion, die sich vom unmittelbaren Eindruck allerdings löst.

Auch wenn sich Religion und Kunst unterscheiden lassen, so sind sie doch beide darin faszinierend, erstaunlich, erregend, dass sie gespürte Bedeutung exemplarisch ins Werk setzen. Gleichzeitig machen sie in solchen ”Werken” die in ihnen ausgedrückte Erfahrung so oder ähnlich immer wieder erlebbar und lassen sie je neu – nach Gunst der Umstände, der Szene, der eigenen Offenheit und Spürbereitschaft – zur Wirklichkeit werden. Dabei bedeutet gerade die Unberechenbarkeit des Moments, in dem sich die religiöse oder künstlerische Erfahrung herstellt, ihre bleibende Faszination. Entsprechendes gilt für Symbole: sie sind Darstellung, Artikulation und Erscheinung von Bedeutungserfahrung, von gespürter Lebendigkeit. Darum sind sie Kunst. Und Religion ist ein symbolisches System: alles in ihr ist Ausdruck von Bedeutung, die niemals fixierbar, immer nur subjektiv entschlüsselbar ist. Religion wird zum Aberglauben, sobald der Symbolsinn in wortwörtliches Verstehen und Festhalten an Satzwahrheiten übergeht.

Auch im religiösen Raum geschieht Begreifen durch Mimesis: die Sinne öffnen sich den Dimensionen und Eindrücken des Raumes und lassen im eigenen Innneren eine Resonanz entstehen, in der sich Vorerfahrung, Emotion und Verstehen zu einem subjektiven Eindruck mischen. Von bestimmten religiösen Symbolisierungen formen Menschen ein inneres Bild aus, das sie ”vor Augen und im Herzen” haben. Nicht die Form, sondern das mimetisch erzeugte Bild ist Träger der religiösen Überlieferung. ”Begriffene” Religion ist nicht objektiv festgestellte und verlustlos mitteilbare, sondern subjektiv bedeutsame und in je neue Gestalt überführte.

Szene 3: Prozesse

Stille in der dunklen alten Dorfkirche. Ab und zu das Rascheln eines Nylonschlafsacks, bisweilen ein Knacken der alten Holzbalken im Dachstuhl. Manchmal ist ein leises Schnarchen zu hören. Fast hundert Menschen haben sich in dem unbestuhlten Raum in ihre Decken verhüllt, liegen kreuz und quer an Stützpfeilern oder mitten am freien Boden verteilt. Vorn am Altar brennen Kerzen, die den Raum spärlich erleuchten. Es ist drei Uhr nachts. Ein Rasseln im alten Kirchturm kündigt den Glockenschlag an: drei mal tönt es dumpf. Die Menschen schälen sich langsam aus ihren Decken und begeben sich schweigend in den Altarraum, wo eine biblische Lesung beginnt, gefolgt von im Wechsel gesungenen Psalmen. Ein Bild für die Auferstehung der Toten? Bald begeben sich alle wieder an ihre Plätze. Die nächste Lesung wird um vier Uhr sein. Die biblischen Texte, die vorgetragen werden, spannen einen Bogen von der Urgeschichte bis zur Neuen Schöpfung. Bis dahin machen die meisten Menschen in dem Raum eine überraschende Erfahrung: drei oder vier Stunden hat es bei vielen gedauert, bis sich die Gedanken im Kopf klären und eine ungekannte, wohltuende Ruhe eintritt. Müde sind nur wenige, dazu ist die Atmosphäre zu beeindruckend. Um fünf Uhr, beginnt eine prächtige Osternachtsfeier. Andere Menschen strömen in die Kirche, die Osterkerze wird hereingetragen, das Licht wird weitergegeben, bis der Raum hell erstrahlt. Responsorien, rituelle Rufe, feierliche Lesungen und Gesänge lassen einen Eindruck von dem wach werden, was früher einmal das rituelle Osterlachen war.

Dass Liturgie und Raum nicht scharf zu trennen sind, sondern ineinander liegen, dürfte kein religiöser Zufall sein. Religiöse Räume laden zur Begehung und zum teilnehmenden Prozess ein. Religion und Bewegung sind untrennbar miteinander verbunden: es bewegt mich – darum verdient es Religion genannt zu werden. Die Teilnahme selbst wird zur Bewegung  – so wie das Kunstwerk immer Form gewordener Ausdruck einer Erregung und Erregung ermöglichende Form zugleich ist. Und auch wenn die Liturgie in Prächtigkeit erstarrt, geschieht Teilnahme: durch Mimesis, d.h. durch das sinnliche Mitvollziehen eines szenischen Geschehens, das mich im Innern bewegt.

Szene 4: Konversionen

Der junge Mann, der in seiner Verzweiflung nicht weiterkommt, vertraut einer Eingebung. Er übernimmt nicht mehr die Rolle von aktiven Gestaltern, er wird heute kein Prometheus und kein Judas sein. Nachdem der Leiter des mythischen Spiels von dem Geist erzählt hat, der in die Unterwelt geht, ist er spontan bereit, den zu spielen. Er wird in das Totenreich steigen. Dabei kommt das Gefühl einer Kapitulation auf: ”Ich kann nicht mehr”. In dem Moment aber, in dem er – symbolisiert durch das Schweigen der Gruppe um ihn herum – im ”Totenreich” sitzt, kommt eine Ruhe über ihn, wie er sie nicht erwartet und lange nicht mehr gespürt hat. Noch beeindruckt von dieser Erfahrung, stellt sich in einer anschließenden Gehmeditation ein unvermutetes und kräftiges Bild vor seine inneren Augen: vor ihm sieht er den Rücken einer kraftvoll, gemessen und geschmeidig schreitenden Löwin in ihrem glänzenden Fell; hinter ihm schwebt ein gütiger Engel, der – unbestimmbar woher – mit aller Deutlichkeit den Namen ”Der Engel der Geduld” hat. Von beiden geht eine spürbare Kraft aus, die einen nächsten Schritt in seinem Leben in erreichbare Nähe rückt.

Die Momente, in denen wir alles in neuem Licht sehen, sind in unserem Leben nicht gerade häufig. Planbar und herbeiführbar sind sie ohnehin nicht. Dennoch kann von derartigen ”Küssen des Universums” (Friedrich Schleiermacher) eine starke richtunggebende Kraft ausgehen; sie können Marksteine in der Gesamtdeutung werden, die wir (mehr oder weniger bewusst) der Welt und unserem Leben geben, und sie tragen dementsprechend ihren erheblichen Teil zur Gesamtlage unseres Lebensgefühls bei.

Niemand kann wirklich sicher sein davor, in einem unvermuteten Moment der unfassbaren Schönheit und Grandiosität der Welt und des Lebens gewahr zu werden. Weder theologische Theorie, noch ökonomisch-funktionales Denken vermögen derartige Erfahrung wirklich zu verhindern – wenngleich zuzugeben ist, dass sie sie faktisch einschränken und seltener machen, und vor allem: dass sie sie als unbedeutend, ”bloß subjektiv”, als flüchtige Unbedeutsamkeiten erscheinen lassen. So ein Moment kann auch in einem theologischen Hörsaal stattfinden (was ich bezeugen kann – ausgerechnet für eine dogmengeschichtliche Vorlesung, dort allerdings beim Blick aus dem Fenster in den Schlosspark davor). Dennoch ist in ihnen die Religion in ihrem reinsten Ausdruck – oder besser und zutreffender gesagt: in ihnen spiegeln sich religiöse Erfahrungen grundlegender Art.

Der alte Vergleich der Religion mit der Liebe zielt vor allem darauf ab, das Leben auf derartige Momente der Verzückung zu konzentrieren, die verklärend sind: nichts ist, wie es scheint. Berechnungen, Erklärungen und Analysen trügen. Alles ist ganz anders als gedacht: das wäre religiöses Begreifen in seinem Kern. Wie in der Liebe folgt aus ihnen ein gewisses Quantum an Verrücktheit. Gut ablesbar ist das an Jesus von Nazareth, der selbst von seinen eigenen Verwandten (so Luther, Mk 3,21) als ”von Sinnen” bezeichnet wurde – offenbar, weil er wachere Sinne hatte, die sich in kein gängiges Schema fügen wollten. Nach Mk 1,14 ist seine Grundbotschaft die von Gottes Nähe, die den Menschen dazu einlädt, alles aus einer entsprechenden neuen Perspektive zu betrachten: das griechische metanoete bezeichnet, wörtlich übersetzt, die Aufforderung, sich ”über/neben” (meta) das eigene bisherige Denken und Wahrnehmen (noein) zu stellen.

Sinnliches Begreifen – theoretisches Begreifen

Religion zu begreifen heißt zunächst und grundlegend, sie zu greifen, also: zuzugreifen, sobald religiöse Szenerien sich anbieten oder auftun. Greifen und begreifen hängen, wie jeder an kleinen Kindern sehen kann, eng zusammen. Im Greifen von Dingen lernen wir immer auch, Bezug zu uns selbst herzustellen, was gleichbedeutend ist mit dem Erleben von Bedeutung. Paul Tillichs Definition der Religion als dessen, was mich angeht, nimmt genau diesen Gedanken auf.

Wenn Religion Bedeutung schlechthin ist, Bedeutung aber Sache des (Be)greifens, dann hat der Protestantismus doch mehr Ahnung von Religion, als man gemeinhin annimmt. Im Abendmahl sieht er seit Luther das ”sichtbare Zeichen” von Gottes entgegenkommender Liebe, das man in die eigene Hand nehmen kann.

Angesichts eines nachhaltig funktional geprägten Denkens ist Religion hierzulande eine fast unbekannte Größe geworden. Der christliche Sinn von Weihnachten ist 16% der deutschen Schüler bekannt; nach einer eindrucksvollen Untersuchung von Holger Oertel (”Gesucht wird: Gott?”, Gütersloh 2004) ist die Orientierung an der Wirklichkeit bei Jugendlichen durchgehend und geradezu beeindruckend eindeutig eine naturwissenschaftlich-positivistische; das durchschnittliche Bild unserer Gymnasiasten vom Christentum ist das einer mittelalterlichen Magiepraxis. Zugleich und dennoch gibt es eine große unterschwellige Sehnsucht nach Religion, auch nach der christlichen – wie jüngst die (aus protestantisch wie allgemein religiöser Sicht allerdings recht ambivalenten) Vorgänge in Rom belegen.

Der alte Weg, von theologisch geklärten Wahrheiten aus zu religiösem Begreifen, d.h. zu religiöser Erfahrung und Selbstverortung zu leiten, scheint heute versperrt. Der lernende bzw. entdeckender Zugang zur religiösen Erfahrung muss heute voraussetzungslos sein. Er geschieht darum nicht mehr (primär) lehrend und reflexiv, sondern über die unmittelbare Evidenz der sinnlichen Wahrnehmung: ästhetisch. Sinne und Sinn (d.h. die Fähigkeit der Bedeutungs-Zuschreibungen) sind für die Symbolisierungen der Religion zentral. Das klingt neu, ist es aber gar nicht: der christliche Geist mit seinem verrückten, zu aller berechnenden Ökonomie quer liegenden Blick auf das Leben wurde schon immer weit eher durch Räume, Liturgien, Mysterienspiele und Bilder begriffen als durch Lehren.

Sinnliche Zugänge zur (christlichen) Religion zu schaffen ist darum die primäre Aufgabe der Theologie. Darum wird die Religionspädagogik zu deren strukturierenden Zentrum. Religiöses Lernen wird zum primären theologischen Anliegen und löst darin die inhaltshermeneutische dogmatische Selbstklärung der christlichen Tradition ab. Vor aller reflexiven Selbstvergewisserung muss die Bedeutung der Religion öffentlich, für die Menschen ebenso wie für die religiöse Kulturtradition, verstehbar bleiben. Das heißt vor allem, dass Phänomene der Religion als solche benannt werden. Und es heißt weiter: Neben die analytisch-hermeneutische Beleuchtung von Religion und Kultur (Fundamentalismus, Religion in der Populären Kultur, civil religion usw., also die ”religiöse Kulturhermeneutik”) tritt vor allem die Aufgabe einer Gestaltung von Zugangsmöglichkeiten zur Religion, die ein religiöses ”Begreifen” im umfassenden Sinne ermöglichen. Auch wenn die aufgeführten Szenen und die in ihnen enthaltenen Erfahrungen nicht direkt herstellbar sind, so sind sie doch anzubahnen, d.h. zu präsentieren und zu inszenieren. Nur so kann es zur mimetischen Anverwandlung der Religion kommen, und zur Möglichkeit, sich ins Leben hinein zu entwerfen.

Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 57 (2005)